Ärzte im Nationalsozialismus: KVSH zeigt Ergebnisse einer jahrzehntelangen Forschungsarbeit
Bad Segeberg, 4. Dezember 2025 – In den Räumen der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein (KVSH) ist bis zum 18. Dezember 2025 die Ausstellung „Systemerkrankung: Arzt und Patient im Nationalsozialismus“ zu sehen. Sie zeigt in eindrücklicher Weise durch multimedial aufbereitetes, bislang unveröffentlichtes Quellenmaterial, wie Ärztinnen und Ärzte und ihre Standesvertretung zu Verbrechen einer menschenverachtenden Ideologie und deren Umsetzung beigetragen haben.
Die Ausstellung, die vorgestern feierlich eröffnet worden ist, basiert auf einem mehrjährigen Forschungsprojekt im Auftrag der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und wurde vom Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin kuratiert. Zu Beginn der Eröffnungsveranstaltung wies die Vorstandsvorsitzende der KVSH, Dr. Bettina Schultz, darauf hin, dass nicht zuletzt das ärztliche Gelöbnis der „Deklaration von Genf“ des Weltärztebundes „uns an die tiefe moralische Verantwortung erinnert, die mit unserem Berufsstand einhergeht. Diese Ausstellung macht deutlich, dass wir dieser moralischen Verantwortung im Dritten Reich nicht gerecht geworden sind.“ Diese Ausstellung zeige, weshalb Erinnerungsarbeit zum Nationalsozialismus auch 80 Jahre nach dem Ende des Nazi-Regimes wichtig ist und bleibt. „Sie ist Mahnmal, Warnung und Erinnerung und zeigt uns: Nur weil das Regime gefallen ist, sind die Gedanken nicht verschwunden.“ Zu den Aufgaben der Kassenärztlichen Vereinigungen, den Ärztekammern und Berufsverbänden gehöre auch zu verdeutlichen, was auf dem Spiel steht, wenn in einem Berufsstand, der dem Menschen verpflichtet ist, die Menschlichkeit verloren geht.
Einzigartige Dokumente lagen in einem verschlossenen Tresor
Einen Blick hinter die Kulissen zur Entstehung der Ausstellung gab der Kurator Sjoma Liederwald. „Begonnen haben wir mit dem Umzug der KBV im Jahr 2014 von Köln nach Berlin.“ Damals habe man bei der Auflösung der Büros in Köln bei einer inzwischen verstorbenen „grauen Eminenz“ der damaligen KBV in einem Tresor – „zu dem niemand den Code kannte“ – eine Vielzahl historischer Dokumente, Protokolle, Listen und Notizen aus der NS-Zeit gefunden. Drei Jahre habe man benötigt, um alle Aktenordner zu sichten, zu sortieren und durchzugehen. Am Ende sei daraus das Forschungsprojekt der KBV entstanden. „Das Ergebnis zeigen wir hier“, so Liederwald, „und wollen damit vor allem in den Dialog gehen.“
Zum Abschluss richtete der Wissenschaftler und Medizinhistoriker Prof. Philipp Osten, Leiter des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, den Blick insbesondere auf die Ausgrenzung jüdischer Medizinerinnen und Mediziner. Er spannte den Bogen zurück in das 19. Jahrhundert und die Bedeutung auch dänischer Ärzte für die Entwicklung der Medizin in Schleswig-Holstein.
Forschung jüdischer Ärzte war für Fortschritt der Medizin unverzichtbar
Osten verdeutlichte, dass insbesondere jüdische Ärzte trotz struktureller Benachteiligungen bereits im 19. Jahrhundert, als das Gebiet nördlich Hamburgs noch zu Dänemark gehörte, zentrale Impulse für die moderne Kinder- und Jugendmedizin setzten. Sie übersetzten internationale Fachliteratur, entwickelten neue Hygienekonzepte und prägten kommunale Gesundheitsstrukturen – in einer Phase, in der Deutschland mit der höchsten Säuglingssterblichkeit Europas zu kämpfen hatte. „Ihre wissenschaftliche Arbeit war für den medizinischen Fortschritt unverzichtbar – und zugleich eng verknüpft mit gesellschaftlicher Verantwortung“, betonte Osten. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 änderte sich dies abrupt.
Späte Flucht aus persönlichen Gründen
Zahlreiche jüdische Mediziner wurden aus ihren Ämtern gedrängt, entrechtet, zur Emigration gezwungen oder später deportiert und ermordet. Lediglich drei Mediziner in Schleswig-Holstein klassifizierten die amtlichen Dokumente der Nationalsozialisten in den Jahren zwischen 1933 bis 1937 noch als „Jude“. Dem Kinder- und Säuglingsarzt Dr. Otto Spiegel aus Kiel gelang 1937 noch die Flucht in die USA über die Niederlande und Südamerika. Dr. Carl Martin Steilberger, ebenfalls aus Kiel, emigrierte nach Dänemark, musste auch das Land in Richtung Schweden verlassen, als dort 1943 der Nazi-Terror einsetzte. Er und seine Frau ertranken auf der Flucht, nachdem sein in der Nacht unbeleuchtetes Boot gerammt worden war und sank. Es sind diese dokumentierten Biografien, die die Dimension der Verfolgung verdeutlichen. Dass einige erst sehr spät emigrierten, hatte dabei oft sehr persönliche, naheliegende Gründe – wie beispielsweise die Pflege der Eltern.
Die Ausstellung ist bis zum 18. Dezember 2025 in Haus 6 der KVSH, Bismarckallee 1–6, Bad Segeberg, zu sehen. Für Schulklassen nach vorheriger Anmeldung unter presse@kvsh.de an den Wochentagen Dienstag bis Donnerstag von 9 bis 12 Uhr, für die allgemeine Öffentlichkeit ohne Anmeldung zusätzlich an diesen Wochentagen von 13 bis 16 Uhr. Der Eintritt ist frei.
Für die Medien: Nutzen Sie für Ihre Berichterstattung gern das beigefügte Foto, BU: Die Ausstellung zeigt die Verstrickung der Ärzteschaft und ihrer Standesvertretungen in das NS-Regime.
Kassenärztliche Vereinigung Schleswig-Holstein
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